Retropektiven noch zeitgemäß?
Gehörst du zum Team „Retro“ oder eher zum Team „Lass mich arbeiten“? Bei dem Thema Retrospektive gibt es Fans und Frustrierte, Gelangweilte und Gehypte. Vor ein paar Tagen begegnete mir ein Artikel auf LinkedIn der zusammengefasst besagte, dass die Debatierclubs der Retrospektiven durch sinnvolle Führung zu ersetzen sei. Auch Teams, die bereits ihre 30 Retrospektive erleben, sind oftmals wenig begeistert eine 31. zu erleben. Ist das Format noch zeitgemäß oder gibt es bereits deutlich bessere Methoden? Oder sollte man die Zeit ganz anderes verbringen?

Agile Coach | Softwareentwickler
1. Januar 1970

Warum überhaupt Retrospektiven?
Der Ursprung von Retrospektiven liegt in den frühen 1990er Jahren in der Softwareentwicklung. Sie kamen als Antwort auf die „Post-Mortem“-Analysen, die oftmals nach Abschluss eines Projektes durchgeführt wurden. Die dort erreichten Erkenntnisse sollten als „Lessons Learned“ in folgende Projekte einfließen. Man erkannte, dass Themen zu spät gewonnen wurden und nicht für abgeschlossene Projekte verwendet werden konnten (https://www.awork.com/de/glossary/retrospektive).
Mit dem Aufkommen von agiler Softwareentwicklung, wurde das Prinzip des regelmäßigen Rückblicks in agilen Frameworks mit aufgenommen. Heutzutage wird die Retrospektive als Werkzeug der Reflexion und der kontinuierlichen Verbesserung auch außerhalb von Softwareprojekten eingesetzt.
Ein Rückblick, eine Reflexion des vergangenen ist auch immer ein Blick nach vorne. Wie wollen wir in Zukunft miteinander arbeiten, entwickeln und umgehen. Warum braucht es diese Besinnung?

Es macht Sinn sich immer wieder in die Distanz zu begeben und das Gesamte und Erlebte auf sich wirken zu lassen. Wo stehen wir gerade? Passt die Geschwindigkeit? Und passt die Richtung noch? Wir erleben das persönlich, wenn man bei einer Bergtour die Dinge vom Gipfel aus der Ferne betrachten kann. Aus der Distanz lassen sich Begebenheiten wahrnehmen, die im Alltagstrubel untergehen. Man kann sich Klarheit über den aktuellen Stand verschaffen und wieder neu fokussieren, auf das, was Wert und Sinn ergibt. Nicht nur am Ende eines Projekts oder zwischendurch, wenn es mal klemmt.
Stellt sich dieses gemeinsame Neufokussieren als Team ein, führt das zu erlebter Selbstwirksamkeit. Ein Team, dass solche Retros erlebt, merkt dass es etwas bewirken und ändern kann. Es übernimmt Verantwortung und möchte Vorangehen, Verbessern und Weiterbringen. Man spricht dann auch von High-Performance Teams, auch wenn mir persönlich der Begriff nicht sonderlich gefällt (er weckt die Begehrlichkeit der Messung und des Vergleichens – „Wir sind die Besseren“).
Retro-spektive braucht auch Per-spektive
Der zyklisch durchgeführte Rückblick hat so manche Pitfalls, weshalb das Format der Retrospektive hinterfragt wird. Ich möchte nachfolgend drei erlebte Fallen ansprechen, in die man geraten kann und wie man am besten passend darauf reagiert.
Zu lange das gleiche Format
Aus der Literatur sind für den Aufbau von Retrospektiven oftmals vier Bereiche bekannt. Was lief gut? Was lief schlecht? Was habe ich gelernt? Was würde ich gerne einmal ausprobieren? Dieser grundlegende Aufbau findet sich in vielen Retrospektiven wieder (z.B. der Segelboot-Retro). Erlebt ein Team zu oft das gleiche Format, so ist es verständlich, dass keiner mehr Lust auf die 30. Retro hat. Eine Retro ist mehr als die fünf Phasen und 4 L‘s. Als Moderator der Retro sollte man auch folgende Möglichkeiten immer wieder anbieten:

--> Als Teambuildings-Maßnahme bietet sich vorweg ein Teamevent an aber auch eine Retro in anderer Umgebung. Warum nicht mal ins Café um die Ecke?
--> Auch wenn ein Team schon lange zusammenarbeitet, ist es sinnvoll immer wieder einmal eine Methode oder ein Prinzip genauer unter die Lupe zu nehmen und dafür Lernen einbauen (ich empfehle z.B. das Hafenmeisterprinzip).
--> Auch Experimente dienen zur Weiterentwicklung des Teams und des Produktes.
Generell gilt, dass eine Retro auf aktuelle Vorkommnisse vorbereitet sein sollte. So kann man das Format speziell darauf anpassen und die Teammitglieder abholen. Gibt es z.B. Unzufriedenheit im Team bietet sich evtl. an einmal zusammen die Bedürfnisgläser anzusehen (eher für eingespielte Teams). Wie voll sind diese Gläser und wenn eines beruflich bedingt sehr leer ist, was sind die Hintergründe. Was schwelt evtl. unter der Wasseroberfläche?

Debattier-Club
In Retros kann es vorkommen, dass länglich über Unzulänglichkeiten debattiert wird, ohne zielführendes Ergebnis. Dies beobachtet man meistens, wenn Themen über längere Zeit angesprochen werden aber sich nichts daran ändert. Hier liegt es sicherlich am Moderator dafür zu sorgen mögliche entstehende Aufgaben während der Retro an Verantwortliche zu übergeben und auch in folgenden Retros darauf zu sehen, ob die Aufgaben abgearbeitet wurden.
Häufiger liegen Debatten allerdings daran, dass über Themen gesprochen wird, die ein Team gar nicht selbst ändern kann. Eine Diskussion darüber verschwendet Zeit und Energie. In diesem Kontext macht es Sinn mit dem Team einmal den „Circle of Influence“ anzusehen.
Circle of Control
Diese Themen kann ein Team komplett selbst beeinflussen und entsprechend ändern, z.B. die Änderung einer eingesetzten Bibliothek auf eine andere die deutlich besser funktioniert.
Circle of Influence
Wo hat das Team bedingt Einfluss? Kennt evtl. Jemanden der mit Jemanden reden kann?
Circle of Concern
Dies sind Themen, auf die man keinen Einfluss hat. "Ob wir Slack statt Teams nutzen, können wir selbst entscheiden – Konzernpolitik nicht.
Fehlende (psychologische) Sicherheit
Veränderungsprozesse, speziell Prozesse zur Verbesserung brauchen eine hohe Transparenz und offene Kommunikation. Nur wenn ein Teammitglied sich sicher weiß, wenn kritische Themen angesprochen werden, wird es sich öffnen und damit das Potential mitbringen Verbesserungen zu ermöglichen. Ein solch sicherer Rahmen bewirkt z.B. das Vegas-Prinzip. Was in Vegas passiert, bleibt in Vegas. Themen aus der Retrospektive werden nicht an die Außenwelt getragen.
Teams, die in einer Retro offen und ehrlich Rückmeldung geben dürfen, ohne dafür geblamed zu werden bauen ein starkes Band untereinander. Psychologisch gesprochen führt dies zu starkem Vertrauen und psychologischer Sicherheit. Psychologische Sicherheit ist eine Grundzutat das ein Team performen kann.
Ein weiterer Punkt, ist dass Teammitglieder sich untereinander respektieren sollen. Dies ist leicht gesagt hat aber viele Nuancen, auf die es sich lohnt, einmal genauer darauf zu sehen. Nicht zuletzt deshalb, ist auch der Wert „Respekt“ einer der fünf Grundwerte von Scrum.
Nicht ob, sondern wie
Vielleicht ist es Zeit, deine nächste Retro anders zu gestalten – experimenteller, mutiger, relevanter. Denn eines ist sicher: Die entscheidende Frage lautet nicht „Brauchen wir Retrospektiven?“ sondern „Wie gestalten wir sie so, dass sie wertvoll sind?“
Retrospektiven sind ein zentrales Werkzeug der Weiterentwicklung. Eine Weiterentwicklung des Teams ist auch immer eine Weiterentwicklung des Produkts, der Prozesse und der Organisation.
Vielleicht wäre eine Namensänderung angebracht, evtl. Zukunfts-Schmiede 🚀?

Tobias Lauffer
Als leidenschaftlicher Agilist unterstütze ich Unternehmen dabei, agile Methoden zu verinnerlichen und den größtmöglichen Business Value zu erzielen. Am meisten Spaß macht es, gemeinsam mit Kunden exzellente Lösungen zu entwickeln und dabei kollaborative Methoden & Tools einzusetzen. Gerne gebe ich praxisnahe Scrum-Schulungen, um Teams auf ihrem Weg zur Agilität zu begleiten.
So es die Zeit zulässt, entsteht der ein oder andere Blog-Artikel auf unserer Webseite, um Wissen und Erfahrungen aus der agilen Praxis zu teilen.
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