Stell dir vor, du stehst vor einem neuen wichtigen Projekt und kommst in die spannende Phase der Anforderungsanalyse. Es wird zu Workshops eingeladen, intensive Analysen werden durchgeführt, doch irgendwie bleibt das Gefühl, noch keine Übersicht zu haben, mit der man sinnvoll starten kann.
Trotz umfassender Schulungen im Anforderungsmanagement, hatte ich bisher noch nicht von der Technik der Systemischen Fragen gehört. Dabei können gerade diese Fragen in der Anforderungsanalyse wahre Wunder bewirken. Systemische Fragen sind im Bereich der Systemik beheimatet, und ihr großes Potential in der Anforderungsanalyse wird oft übersehen. In diesem Artikel möchte ich dir zeigen, wie diese beiden Disziplinen zusammenfinden und wie du mit Hilfe systemischer Fragetechniken die größten Herausforderungen bei der Anforderungserhebung meistern kannst.
Die Herausforderung der Anforderungserhebung
Product Owner und Requirements Analysten kennen diese Situationen nur zu gut:
- Unklare Anforderungen entstehen durch unterschiedliche Vorstellungen und Prioritäten der Stakeholder.
- Anforderungen werden als selbstverständlich angesehen und nicht mehr explizit formuliert.
- Anforderer haben bereits eine sehr genaue Vorstellung der Lösung (“Solution Bias”) und können das eigentliche Problem nur noch unzureichend formulieren.
Diese Herausforderungen verlangen nach cleveren Fragetechniken eines Requirements Analysten (und ja, dazu zähle ich auch den Product Owner). Genau hier kommen systemische Fragen ins Spiel.
Typen von Systemischen Fragen und ihr Einsatz in der Anforderungsanalyse.
Zirkuläre Fragen
Zirkuläre Fragen nehmen weitere Perspektiven in die Betrachtung auf, um ein vollständigeres Bild zu erhalten. Man fragt beispielsweise über Dritte, welche Perspektive sie zu einer Thematik haben.
- „Was würde ihre Vorgesetzte empfehlen, wie der Prozess diese Thematik lösen soll?“
- „Welche Funktion würde Herr Schmidt aus dem Einkauf als am wichtigsten bewerten?“
- „Welche Daten würde ihr Kollege am liebsten sehen wollen?“
Skalierungsfragen
Bei Skalierungsfragen, wird ein Thema anhand einer Skala bewertet, um Sachverhalte zu erfahren, die objektiv schwer messbar sind. Sie erleichtern Befragten, einen abstrakten Sachverhalt zu konkretisieren. Es kann beispielsweise sehr schnell ermittelt werden, wie kritisch oder wichtig ein umzusetzendes Thema ist:
- „Auf einer Skala von 1 bis 10, wie wichtig ist ihnen das Thema?“
- „Auf einer Skala von 1 bis 10, wie zufrieden sind sie mit der aktuellen Lösung?“
Hypothetische Fragen
Diese Fragen zielen darauf ab, wie eine Ideallösung aussehen könnte und wie man sich dieser am besten nähert.
- „Wir nehmen an, der Server hat unendlich Leistung zur Verfügung. In welcher Zeit sollten alle Aufträge abgearbeitet sein?“
- „Welches Feature würden sie wählen, wenn die Kosten keine Rolle spielen?
Problemorientierte Fragen
Fragen zur Problemorientierung zielen speziell auf das Problem ab und bringen gewöhnlich Gründe zur Sprache, weshalb dieses besteht.
- „Wie ist das Problem entstanden?“
- „Seit wann besteht es?“
- „Welche Folgen resultieren aus dem Problem?”
Lösungsorientiere Fragen
Diese Fragen helfen, auf eine mögliche Lösung überzuleiten und sind speziell dann sinnvoll, wenn man zu sehr im Problembereich feststeckt. Dies ist auch ein Fragetyp der im klassischen Anforderungsmanagement oftmals vorkommt:
- „Was ist notwendig, dass ein reibungsloser Ablauf gewährleistet bleibt?”
- „Was hilft bei der Problemlösung?”
Paradoxe Fragen
Mit diesen Fragen können aktuelle Standpunkte oder auch kritische Verhalten durch z.B. eine theoretisch gezielte Verschlimmerung auf den Punkt gebracht werden. Das Gegenteil davon kann helfen, die aktuelle Situation zu verbessern.
- „Was müsste man tun, um das Problem zu verschlimmern?“
- „Wie würde das Projekt gegen die Wand fahren?“
- „Wenn wir so weitermachen, was würde geschehen?”
Ressourcenorientierte Fragen
Diese Fragestellung zielt darauf ab, wie und wo ein ähnliches Problem schonmals gelöst wurde. Es geht darum, wo eine bereits funktionierende Ressource genutzt werden kann. Evtl. kann die damalige Lösung für die aktuelle Thematik helfen:
- „Wie wurden die DSGVO-Anforderungen in dem zuvor entwickelten Tool umgesetzt?“
- „Wurde dieses Problem aus ihrer Sicht schonmal an einer anderen Stelle gelöst?”
Die Wunderfrage
Diese Frage wird auch gerne in Retrospektiven verwendet und hilft speziell dann, wenn Anforderer zu sehr im Problembereich hängen bleiben. Es wird die Frage gestellt, dass über Nacht ein Wunder geschehen ist und das Problem gelöst wurde. Woran erkennt man als Erstes, dass das Wunder eingetreten ist? Dies ist eine schöne Überführung von dem Problem- in den Lösungsbereich.
Was sind Systemische Fragen?
In der Systemik wird im Gespräch das individuelle “System” eines Klienten betrachtet. Dabei versucht man nicht nur direkt ein Problem zu betrachten, sondern alle Variablen, die zu dem System des Klienten gehören. Es handelt sich insofern um ein komplexes, dynamisches Netzwerk von interagierenden Elementen. Durch die Analyse dieses Systems erlangt man ein tieferes Verständnis der Wechselwirkungen und Beziehungen innerhalb des Systems, was bei der Planung und Umsetzung von Veränderungen hilft.
Systemische Fragen sind dabei eine wichtige Methode, um komplexe Zusammenhänge und Wechselwirkungen innerhalb eines Systems zu verstehen. Sie helfen, den Problembereich zu erfassen und unterstützen bei der Intervention hin zum Lösungsbereich.
Interessanterweise sind sie auch prädestiniert für die Anforderungsanalyse von Softwaresystemen. Sie sind ein sinnvolles Hilfsmittel, um relevante Anteile eines Systems möglichst vollständig zu erfassen. Mit den Fragen wird versucht, ein Thema von unterschiedlichen Blickwinkeln zu betrachten, um daraus Erkenntnisse zu gewinnen.
Resümee
Auch wenn systemische Fragen nicht explizit bekannt sind, nutzt jeder gute Product Owner oder Business Analyst Typen dieser Fragen, insbesondere lösungsorientierte Fragen. Systemische Fragen sind beim Anforderungsmanagement äußerst sinnvoll.
Mit systemischen Fragen lässt sich nicht nur die Problemanalyse verbessern, sondern auch die Qualität und Effizienz der entwickelten Lösungen steigern. Indem man verschiedene Perspektiven einnimmt und das gesamte System betrachtet, können Anforderungen präziser und umfassender erfasst werden, was letztlich zu besseren Ergebnissen führt.
Welcher Fragetyp hat dich inspiriert und würdest du gerne einmal ausprobieren?
Quellen:
- INeKO Systemisches Coaching und Veränderungsmanagement – Gesprächsführung im Coaching
- https://clevermemo.com/blog/systemische-fragen/